Vom gewaltigen Lebensstrom

TONI PACKER

(Ausschnitte aus einem Meditations-Vortrag in Holland, Mai 1995, frei übersetzt und redigiert v. Dr. Friedrich Landa, überarbeitet von Toni Packer)

Diese Frage wird in Gesprächen immer wieder gestellt:

Wie soll ich mit all der Gewalttätigkeit, mit all dem Leid in der Welt umgehen? Mit Hunger, Krieg, Kriminalität, Terrorismus, mit der Grausamkeit den Tieren gegenüber, mit dem Elend in den Schlachthäusern? Wie soll ich damit fertig werden, daß wir Gewalt gegen Tiere verursachen, wenn wir sie zu Nahrungszwecken verwenden? Wie geht das alles mit Achtsamkeit, Klarheit, Liebe, Weisheit zusammen?

Das Leben ist ein ganzes, vollständiges Zusammenwirken, eine ganzheitliche Bewegung. Ein alles einschließender, nichts ausschließender Prozeß. Gemäß der Urknalltheorie mußten Sterne explodieren, damit aus dem Sternenstaub Lebendiges entstehen konnte. Praktisch aus dem Nichts - aus einem unsichtbar kleinen Zentrum -explodierte Energie ins Sein. Dabei manifestierten sich die notwendigen Elemente, aus denen sich Lebendiges frei entfaltete. Das Entfalten aus dem Einfachen ins Mannigfaltige. Die Beobachtung der Natur erweckt immer wieder aufs Neue das Staunen über den Einfallsreichtum, die Kreativität des Lebensprozesses, die Hemmungslosigkeit in der „Verschwendung“ seiner selbst. Es gibt 20.000 verschiedene Arten von Orchideen! Der Kampf ums Überleben ist im organischen Bereich besser sichtbar als im Anorganischen. Der Habicht fängt die Feldmausmutter ohne Rücksicht, ob da noch sechs oder acht Junge im Nest sind, das spielt keine Rolle für ihn. Meistens erwischt es die Schwachen, die Jungen oder die Alten, die nicht schnell genug laufen können. Ob die Ernährung in Form von Fleischverzehr erfolgt oder ob wir Pflanzen essen: Leben lebt vom Leben. Es kann sich nur aus sich selbst erhalten - einfache Formen ernähren sich von Komplexen und komplexe Formen von komplexen und einfachen. Weder Mensch, Tier, noch irgendein empfindsames Wesen sollte je gequält werden, so wünschen es sich viele Menschen von Herzen. Aber wir leben nicht wie wir SOLLTEN... Wir leben absorbiert in Gedanken und Phantasien, Gelüsten und Ängsten, Meinungen und Überzeugungen und sehen nicht, was wir wahrhaftig sind und tun und treiben. Wir Menschen haben zusätzlich zu tierischen Instinkten die unglaubliche Fähigkeit zu symbolisieren: Wer ich bin und was der andere ist, was mein Territorium ist; außerdem haben wir Vorstellungen darüber, was wir besitzen müssen: mehr Raum, mehr Land, mehr Schätze, mehr Frauen, Tiere oder Sklaven. Seit undenklichen Zeiten ziehen die Menschen dafür in den Krieg. Getrenntheit entsteht durch die Fähigkeit des Gehirns Ideen über „ich und mein“ zu bilden: Meine Familie, meine Gruppe, meine Rasse, mein Land, meine Religion, meine Freunde... Die Macht der Symbole setzt solche Energien frei, solchen Enthusiasmus, mit Gewalt gegen andere vorzugehen.
Wir mögen vielleicht die verurteilen, die Fleisch essen, selbst aber sagen wir auch: „Nun, wir müssen von etwas leben, also ernähren wir uns von Pflanzen und Samen.“  Pflanzen sind auch lebendig und wollen leben, aber wir ziehen das Unkraut mit seinen Wurzeln aus um das Getreide zu bewahren. Wir fällen Bäume um Papier zum Schreiben zu gewinnen. Der Sechste Patriarch des Zen lebte nach seiner Flucht aus dem Kloster viele Jahre mit Jägern zusammen, die ihn beschützten. Über seine Lebensweise sagte er etwas, was mich sehr beeindruckte: „Zu den Mahlzeiten bereitete ich Gemüse für mich im Topf neben dem Fleisch der Jäger. Die Jäger ließen mich ihre Fangnetze beobachten, aber wenn Tiere darin gefangen waren, ließ ich sie frei.“ (Hui-neng: Das Sutra des Sechsten Patriarchen, Barth Verlag 1989. S. 54.)  Woher kommt unser starkes Verlangen der Welt zu helfen, leidenden Menschen und leidenden Tieren zu helfen? Kommt es wirklich aus dem lichten Verständnis dessen, was wir unserem Wesen nach in Wahrheit ohne Überheblichkeit sind? Verstehen wir, daß wir alle ein einheitliches, sich selbst bedingendes untrennbares Leben sind? Kann die Zusammengehörigkeit, die Einheit des vielfältigen Lebens klar erschaut werden? Und erwächst DARAUS Mitgefühl füreinander und entfaltet sich zwanglos? Oder wird aufgrund von IDEEN gearbeitet, die dem eigenen Leben mehr Sinn geben sollen? Wird nach etwas Sinnvollem gesucht, dem man seine ganze Energie widmen möchte, weil man sich innerlich so leer vorkommt, so völlig sinnlos? Was ist diese innere Leere, die so viel Unbehagen und Treibkraft erzeugt? Wir klagen über die Grausamkeiten, die Menschen anderen Menschen und den Tieren zufügen. Aber sind wir jemals der Grausamkeit in uns selbst begegnet? Können wir achtsam hinterfragen und schauen? Ist da Grausamkeit in uns? Haben wir die Offenheit um das direkt in uns zu entdecken? Ohne es sofort zu verurteilen oder zu rechtfertigen? Kann das, was im Inneren vor sich geht, transparent werden?

Eine Frau beklagte sich, daß ihr Mann niemals zu Hause bei den Kindern bleibt, sondern immer in irgendwelchen Angelegenheiten unterwegs ist. Zusätzlich zu seiner Arbeit engagiert er sich ständig für hungernde Menschen, Umweltschutz, Minderheitenrechte usw. Irgend etwas nötigt ihn, das alles zu tun. Was ist es? Was zwingt uns? Können wir tiefer schauen? Fühlen wir uns schuldig wegen des Leidens in der Welt? Wollen wir anderen helfen um für unsere eigenen Taten zu sühnen? Wir alle machen 'Fehler' und begehen 'Untaten'. Wir können nicht anders. Würden wir jeden Moment klar sehen - wir würden Menschen und Tiere nicht mißhandeln. Aber wenn Blindheit und Unaufmerksamkeit herrschen, handeln wir verletzend, verletzen uns gegenseitig, und leiden wegen der verletzenden Dinge die uns andere antun. Wir sind untrennbar verbunden miteinander, mit den anderen Menschen und den Tieren, den Gräsern, Früchten und Bäumen. Können wir diese ursprüngliche Zusammengehörigkeit sehen, oder handeln wir aus dem Getrenntsein - aus einer falschen, erdachten persönlichen Identität heraus - aufgrund von Schuldgefühlen, Ängsten, Bedürfnissen - entsteht da der ständige Wunsch nach Harmonie, Frieden und Güte? Und wir sehen nicht, daß das alles schon DA ist! Alles ist da in der Ganzheit und Vollständigkeit des Lebens - unentwegte, wundersame Schöpfung und gleichzeitig grausame Zerstörung. Leben und Tod, Freude und Leid... kann das eine ohne das andere sein? Wie beschränkt ist eine Sichtweise, wenn sie wegzurationalisieren versucht, was in der Zusammengehörigkeit von Leben und Tod alles vor sich geht. Welche Sichtweise hat man? Welche Erwartungen? Meine individuelle Vergangenheit, mein Wissen, meine Bedürfnisse, Meinungen, Wünsche, Ängste - werden sie getrennt gesehen von den 'Anderen'? Und was kann ich tun, um diesen sogenannten 'Anderen' - seien es Menschen oder Tiere - zu helfen? Oft wollen die einzelnen Menschen das Gleiche - Umweltschutz, gerechte soziale Einrichtungen, Tierrechte usw. -und können doch nicht harmonisch und intelligent MITEINANDER arbeiten. Stattdessen ist da Wettbewerb, Überwachung, Druck, Kampf und Gewalttätigkeit - die geistige Einstellung, die anderen zu bekämpfen, um selber zu gewinnen! Es wird die Vorstellung 'ich und meine Feinde' gedanklich kreiert und der Kampf die 'Anderen' zu bekehren, die 'Wahrheit', das 'Richtige' zu verteidigen, beginnt und setzt sich fort. Das zeigt so klar: Wenn wir nicht miteinander uneigennützig arbeiten können, wie sollten wir einander bewahren? Und wie können wir intelligent miteinander arbeiten, solange uns nicht klar ist, was wir alle wirklich sind? Nämlich nicht nur dieser individuelle Bezugspunkt, dieser Körper, mit seiner gewaltigen Sammlung an Erinnerungsspuren darüber 'was ich bin' und was ich haben muß. Aufgrund dieser Erinnerungsspuren, Überzeugungen und Gefühle reagieren und kollidieren wir. Meinungen und Erinnerungen kollidieren miteinander. Aufgrund von fehlender Einsicht sind wir nicht fähig, die Unzulänglichkeit dieses persönlichen Bezugspunktes zu transzendieren - die inneren Vorgänge zu durchschauen, sie transparent zu machen. Unser Selbst-Bezugspunkt ist nicht das Ganze, er ist nicht die ganze Wahrheit!

Aber wenn Klarheit sich einstellt - direkte Einsicht in die Wahrheit des Seins, die Ganzheit, Fülle und gleichzeitige Leere, Stille... strahlt dann dieses wahre Wesen Liebe und Licht aus? Im Nichtverhaftetsein an die Persönlichkeit - als einer abgesonderten Existenz, getrennt vom Du, von Gegnern und Freunden - im Ganzsein erstrahlen Liebe und Licht...

Nun könnte die Frage auftauchen: Muß ich warten, bis Einsicht in die Ganzheit des Lebens da ist, bevor ich sinnvolle Arbeit für andere tun kann? Muß ich auf Erleuchtung warten, bevor ich helfen kann? Diese Frage ist uralt und doch wieder nur Gedankenakrobatik. Was geschieht, beispielsweise nach einem Erdbeben oder einer sonstigen Katastrophe, wenn wirklich Hilfe gebraucht wird? Entweder man schaut nicht hin und wendet sich ab oder die Hände, der Kopf, die Füße, der Körper, die gesamte Energie ist einfach von allein da und HILFT, rettet, schafft, ohne an sich selbst zu denken.

Vielleicht ist es besser nichts mehr zu sagen und damit zu beginnen einfach stille zu lauschen, nach außen und nach innen.

Toni Packer war Dharmanachfolgerin von Roshi Kapleau bis sie sich unter dem Einfluß Krishnamurtis nicht mehr als Zen-Lehrerin betrachten konnte und die traditionellen buddhistischen Bräuche hinterfragte und ablegte, um möglichst unvoreingenommen wahrnehmen zu können, was in diesem Moment geschieht.

Toni Packer: Springwater Center, 7179 Mill St., N.Y. 14560

Buch: Mit ganz neuen Augen sehen. Braunschweig: Aurum-Verlag, 1991